Stück für Stück nähere ich mich meinem Abfahrtsort, dem Fährhafen in Durrës. Die gedachte Luftlinie ist ausschliesslich zum Fliegen da. Gefahren wird erst mal wieder 10 Kilometer raus aus der Küste, dann auf Hauptverbindung in die eine oder andere Richtung, um dann an geeigneter Stelle stichstrassenartig wieder zirka 10 Kilometer Richtung Küste zu fahren. Seit ein paar Monaten nun gibt es die neue Autobahn. Das erklären mir die beiden Männer, die mich aus dem Durcheinander fischen. Ich bin nach Intuition gefahren, mehr Unterstützung hatte ich nicht, und bin prompt ausweglos in einer Baustelle gelandet.
Lange beraten Sie über meiner Papierlandkarte, bis sie mir erklären, wie ich am besten fahren sollte. Klang plausibel, wie bisher alle Wegbeschreibungen in meinem Leben. Soweit so gut. Bis zum ersten ‘Links’ hat das auch gut funktioniert. Bei der nächsten Richtungsänderung ist schon wieder Sackgasse in meinem Hirn. Irgendwo hätte ich auch auf eine Pipelinefirma treffen müssen. Egal …
Die Strasse ist liebreizend einspurig. Alles ist unterwegs. Alles spielt sich an dieser Strasse ab. Ich mag es vom ersten Augenblick. Bin auch gleich mit der Kamera am Strand. Es dauert nicht lange, und ich werde von einer Ferienhäuschenveranda aus in perfektem Englisch angesprochen.
Eduart ist regelmässig hier. Er hat lange Jahre in Norwegen gelebt. Er wäre auch gerne wieder dort. Er mag das Kühle und Flache. Bei Frauen hat er einen deutlich anderen Geschmack, wie er mir auf seinem Handy demonstriert. Trotzdem findet er das Tragen von Bikinis am Strand zu frivol. Das Strandhäuschen gehört einem Bekannten, das er nutzen darf. Er fährt mit dem Rad hierher. Über Strasse zirka 18 Kilometer. Abroad deutlich weiter. Die Radprofile sind auch deutlich abgefahren. Er würde mir gerne die Fahrradreifen abkaufen. Das, was er hier in Albanien kaufen könne, wäre billiger China-Scheiss. Bis wir feststellen, dass meine Fahrradreifen anscheinend spezielle und teurere E-Bike-Reifen wären. Dann wäre wohl sein Sohn in Griechenland gefragt. Habe noch angeboten, mich von D aus zu kümmern, doch es würde Monate dauern, bis etwas ankommen würde. Auch Goran aus MNE berichtete Ähnliches.
Eduart kommt wie gerufen. Ich habe 1000 Fragen. Mit ihm kann ich mich austauschen. Ich spendiere meine Biere. Im Gegenzug trinke ich ihm über die Stunden seinen selbtgebrannten Raki weg. Das Land wäre noch vor einigen Jahrzehnten 3 Kilometer tiefer gewesen. Das Meer hat sich das Land aufgrund von Erusion zurückgeholt. Im Meer stehen mehrere bauliche Zeugen dafür: Bunker, Restaurant, Wasserturm, Marterl. Das Marterl kommt von einer Familie, die zwei geliebte Menschen verloren hat. Ich habe von Blutrache in Albanien gehört, der Fall hier soll allerdings etwas anders liegen. Ein Mann soll eine Familie mit dem Kaufpreis für eine Immobilie über den Tisch gezogen haben, daraufhin gab es eine körperliche Auseinandersetzung, bei der jemand aus der Familie im Rollstuhl landete und wieder zwei andere seien gestorben. Dramatisch. Eduarts Schlussfolgerung allerdings hat dann doch etwas von Auge um Auge. Der Fall läge jedoch anders. Darauf besteht er. Es gäbe sie auch nicht mehr. Ich interveniere nicht. Aus Respekt. Ich weiss aus Dokumentationen, dass die Blutrache heute leider noch praktiziert wird, allerdings mehr im Norden. Hier gelte noch der Kanun, ein Gesetz der Ehre, das seit dem Mittelalter mündlich weitergegeben wird. Auch Kinder wären davon betroffen, wenn die männliche Nachfolge auf sie trifft, was jedoch ursprünglich nicht so ausgelegt war. Die Blutrache zu durchbrechen, bedeute Schmach. Ein Teufelskreis. Was er von Hoxha halte. Gerade ältere Menschen würden noch zu ihm halten. Er persönlich nicht, da man die Energie für die Bunker in Wohnungsbau, zum Beispiel, hätte stecken können. In Zeiten des Kommunismus hätte es diesen Müll nie gegeben. Die Strandhäuser sind privates Eigentum. Den Grund dazu könne man gegen geringes Geld von Albanien pachten. Die Insel, die man im Hintergrund im Meer sieht, heisst Ishulli Sazan und war schon den Römern, Osmanen, Griechen, Italienern und sogar Deutschen aufgrund der strategischen Lage günstig. Nach dem 2. Weltkrieg fiel es an Albanien, die auf der Insel ihre geheimste Militäranlage mit U-Boot-Kaverne einrichteten. Später kamen auch die Russen militärisch auf das Eiland. Die vielen schönen grossen Autos – bevorzugt Mercedes – würden auch hier in Albanien Unsummen kosten. Die Gelder dafür würden häufig entweder aus Drogenhandel oder Korruption kommen. Die Regierung selbst wäre nicht unwesentlich beteiligt.
Gleich nebenan ist eine Polizeistation, spezialisiert auf Drogenschmuggel übers Meer nach Italien. Morgens, als ich aufstehe, sehe ich auch einen Officer, der mit Fernglas auf dem Dach steht. Sie hätten aber auch Radar. Heute Nacht wäre wohl keine Drogenlieferung zu erwarten, da das Meer zu wild wäre. Um die 70 (See-)Meilen wären es wohl bis nach Italien. Eduart könnte mir auch direkt was zu rauchen anbieten. Das wäre vllt wahrscheinlich bestimmt eventuell lustig. Doch in dieser Beziehung bin ich aus Erfahrung mittlerweile leider Spassbremse – zu viel FREMD in meiner Formel: Ich rauche/nehme keine FREMDen Drogen mehr mit einem FREMDen in der FREMDe. Persönlich würde er sich mit dem Genuss von Raki und ‘white onions’ gegen Corona wappnen. Die Rede ist wohl von Knoblauch. Bisher hätte es geholfen.
Noch vormittags will ich den Strand erkunden. Flamingos gäbe es einen Strand, zirka 40 Kilometer weiter. Allerdings rät man mir aufgrund der Moskito-Plage davon ab. Mittlerweile hätten sich dort wieder um die 3000 Exemplare im Schatten von Corona angesiedelt. So gebe ich mich demütig und wandere meinen Beach.
Um dann tatsächlich andere Flamingos in einer deutlich kleineren Kolonie zu entdecken. Zwischendurch trete ich mir beherzt barfuss einen Anglerhaken ein.
Dieser Strand macht mich glückselig, wie das meiste in Albanien. Als dann noch am nächsten Morgen sich ein Regenbogen über das Land zieht … Albania mirë …
Am frühen Nachmittag macht sich meine Kochblockade bemerkbar. Ich bin hungrig. Ein paar Meter weiter soll es ein Restaurant geben. Ein paarhundert Meter. Ich mag im Freien sitzen. Heute will ich Fleisch, Schweinefleisch. Fisch habe ich mir schon abgeschminkt. Auch laut Eduart gibt es keinen fangfrischen Fisch mehr. Der Fisch käme fast ausschliesslich aus den Fischfarmen im Süden. Die Beilagen sind schon geklärt: Con patate. Jo insalata. Perfetto. Für die Fleischbestellung reicht unsere einzig gemeinsame Fremdsprache nicht. Das übernimmt ein weiterer Ober in perfektem Deutsch. Was ein Missverständnis nie nein überhaupt generell nicht …
Eine kleine Platte Spareribs landet auf meinem Tisch. Erstens kann ich keine Knochen nagen. Zweitens ertrage ich kein Fett. Als ich so hilflos über der Platte sitze, wage ich zu bezweifeln, dass es sich bei den Rippen um Schweinerippen handelt, so zierlich wie sie sind. Als die Katzen so an mir betteln, ereilt mich eine Befürchtung. Eins der Viecher beisst mich auch noch.
(Mein Metzger zuhause, ist nicht meiner Befürchtung: Katzen wären nicht so fettig. Wie kann man da nur so sicher sein?)