Die Taliban haben sich gestern Nacht und heute Morgen nicht mehr sehen lassen. Stattdessen haben wir gleich die Morgen-Abordnung an unserem Fenster, die anzeigen, dass sie Hunger haben. So bekommen sie von uns Brot, Wurst und Orangen. Ein bisschen nach 9 machen wir uns los auf die Straße mit Ziel Kandahar. Bis dorthin sind es um die 600 Kilometer.
Nach 150 Kilometern ist auch schon Mittag und wir machen in Azizabad Pause. Das Restaurant ist ein kleiner Verschlag, von dem die winzige Küche abgetrennt ist. Wildromantisch sind Stoffbahnen mit Rosenmotiv angebracht. An dem einzigen Fenster türmen sich Jungs, die unbedingt einen Blick auf uns erhaschen wollen. Auch bemerken wir, dass vor der Tür das Interesse an uns einige Erwachsene und Kinder versammeln lässt. Wir bestellen uns Hähnchen, die verlockend vor dem Laden im Grill ausgestellt sind. Dazu gibt es Brot. Die Hähnchen sind riesig und so habe ich echt Schwierigkeiten, mich durch die Mahlzeit zu arbeiten. Als wir das Lokal verlassen, ist das Hallo groß. Die Kleinen sind ganz aufgeregt und manche Erwachsene beobachten stumm. Jeder Schritt wird verfolgt. Nach einer kleinen Zuwendung mache ich mich auf zum Auto und mit mir die ganze Schar. Um sie von Jürgen abzulenken, verteile ich die restlichen Bonbons. Das Gerangel ist groß, aber sie freuen sich. Das kommt in diesem kleinen Ort und in den meisten kleinen Orten in Afghanistan wohl selten vor und gilt als Ereignis. Wir fahren weiter.
Wir fahren durch viele kleine Orte, die meistens auch ihre Shops an der Straße haben. Manchmal verkaufen sie Wasser, dann Obst und Gemüse, manchmal sind es ausschließlich Pneus, … Auch hier sind ausschließlich die Lehmbauten mit ihren typischen Kuppeldächern noch bewohnt. In einem Ort habe ich einige ziegelgemauerte Häuser entdeckt, das ist aber wirklich die Ausnahme. An zwei Stellen haben sich Menschen in Zelten, Nomadenzelten, niedergelassen. Obwohl sie traditionell Nomaden sind, haben sich viele von ihnen im Nordwesten Afghanistans niedergelassen. Heute leben nur noch wenige Tausend von ihnen als nomadische Viehzüchter. Wir fahren durch die Berge auf bis 1500 Meter und wieder ein bisschen tiefer. Auf ungefähr 1200 Meter sind wir dann länger unterwegs.
Heute ist wirklich ein schöner Tag für die Strecke: morgens war es noch arg nebelig, danach scheint die Sonne bei dramatischer Wolkenstimmung und die Farben der Berge changieren. Es hat schöne 17 Grad Aussentemperatur, obwohl teilweise ein kühler Wind weht. Ziegen- und Schafherden sind auch vermehrt in der Landschaft oder direkt am Straßenrand zu sehen. Oft auch relativ große Herden.
Auf dieser Strecke haben wir kaum Verkehr. Lastkraftwagen sind fast ausschließlich Mercedes. Ein paar Pkws haben sich auch in den Verkehr gemischt. Es gibt verhältnismäßig häufig Pannen. Bei den beiden Pkws war die Motorhaube auf. Bei den dutzend liegengebliebenen Lkws waren es zu über 90 Prozent Reifenpannen. Die Pannenstelle wird rückwärtig mit Steinen gesichert da, wo bei uns das Warndreieck stehen würde.
Witzig ist, dass in Afghanistan wahrscheinlich alle Pkws Rechtslenker sind trotz Rechtsverkehrs. Es dürfte sich wohl um japanische Importe handeln. Lkws sind Linkslenker. Ausser bei Taxis an der Grenze habe ich bisher noch keine Autokennzeichen gesehen. Außerdem sollen in Afghanistan etwa 80 Prozent der Autofahrer keinen Führerschein haben. Von ausgewiesenen Sitzplätzen halten sie auch nicht viel: in einem Auto habe ich insgesamt 10 Personen gezählt 3 vorne – 3 hinten – 4 im Laderaum. Falls der Platz noch immer nicht reicht, sitzt einfach noch einer auf dem Dach. Auf Mopeds fahren auch schon mal 4. Statt Helm dienen die unterschiedlichen und vielfältigen Kopfbedeckungen – viele tragen Turban (Lungis), meistens in der Kombination mit der Kandahari-Kappe darunter, manche Mützen mit Pelzbesatz rundum, Wollmützen und am häufigsten die Kandahari-Mütze, meistens mit Pailetten – die Pakol sieht man fast gar nicht. Klassische Kleidung für den Mann ist das Perahan Tunban-Ensemble mit langem Hemd und weiter Hose. Vereinzelt sieht man auch – überwiegend jüngere – Männer, die modisch zu westlicher Kleidung greifen.
Mit Militärkontrollen sind die Taliban sparsam. Und selbst an den Stationen sind sie tiefenentspannt und man wird durchgewunken. Wir warten jedoch immer auf Augenkontakt und Handzeichen. Angeblich haben wir uns in der Türkei einmal bei einer Kontrolle falsch verhalten und mussten Strafe zahlen, das wollen wir tunlichst vermeiden. Die Taliban sind meistens freundlich und freuen sich fast, uns zu sehen, grüßen uns, wollen wissen, woher wir kommen, wohin wir fahren, zeigen Daumen hoch und wir ziehen weiter. Auf der Strecke sahen wir zwei aufgelassene Militär-Forts, die anscheinend total zerstört sind und für die sich auch niemand mehr interessiert.
Auch an Friedhöfen kommen wir vorbei. Meistens in der Nähe einer Ortschaft befinden sie sich, zum Beispiel auf einem Hügel oder im Gelände. Die Gräber haben aufrecht stehende Tafeln und sind mit Bändern und rot-grünen Fähnchen geschmückt. Auch finden sich Gräber, die mit einem Stein gekennzeichnet sind und mit Steinen bedeckt sind.
Mit Internet sieht es in diesem Land schlecht aus. Auf der gesamten Strecke hatten wir keinen Empfang trotz Sendemastens. Einmal kurz haben wir ein Edge-Signal empfangen. Gut, dass ich uns von Starlink die Mini-Satellitenschüssel gekauft habe. Funktioniert auch gut. Sonst wären wir wohl für einige Zeit offline.
Wir fahren noch etwa bis wir die Hälfte geschafft haben und stehen jetzt auf einem relativ großen Platz, auf dem auch ein Shop und eine Gebetsstätte ist und man sich die Füße waschen kann in dem Becken vor uns..
Gerade bekommen wir Brot ans Auto geschenkt. Nach energischem Klopfen, das Ungutes vermuten ließ.
Morgen fahren wir die 2. Hälfte und erreichen vielleicht noch Kandahar.
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Als wir heute morgen das Fenster öffnen, schleichen sich vorsichtig ein paar Kinder an. Welch Überraschung, es sind auch Mädchen dabei. Herrlich gekleidet mit traditioneller Kleidung und Glitzer stehen sie da, wie herzig. Sie sind ganz artig. Als wir ihnen Bälle schenken sind sie ganz von den Socken. Später kommen noch weitere Kinder hinzu, auch die bekommen natürlich Bälle. Mit ihren kleinen Fingern zeigen sie mir den Daumen nach oben und auch das Zeichen für Herz formen sie schon ganz geschickt. Bei den Mädels sieht das auch noch ganz nett aus, da die meisten mit Henna gefärbte Finger/Hände haben.
Es geht los.
Der nächstgrößere Ort ist Delaram. Auf den Straßen ist Hochbetrieb längs der Einkaufs- und Hauptstraße. In Delaram ist heute an einem Donnerstag großer Ziegenmarkt. Den hätten wir uns eigentlich ansehen können. Heute ist deutlich mehr Verkehr auf der Straße unterwegs, dafür gibt es weniger Pannen. Die afghanischen Straßen sind nicht wesentlich besser als die iranischen, doch auf dieser Etappe kämpft Jürgen mächtig mit Ausweichmanövern um Löcher, Fahrrinnen, Abriss des Fahrbahnbelags und Sleeping policemen.
Auch mehr Militärstationen gibt es auf dieser Strecke. Heute sind die Taliban sehr ernst und wir werden jedes Mal kontrolliert. Sie wollen die Pässe und die Visa sehen. Dazu werden wir auf den Seitenstreifen geschickt. Aufgegebene Militärstationen gibt es auch wieder.
In Girishk halten wir für einen Bummel über die Einkaufsmeile an. Jürgen möchte fotografieren. Kaum steht man an der Straße, hat man auch schon Gefolge, das immer größer wird. Bleibt man stehen, sieht man sich in Dreierreihen umringt von Schaulustigen. Selfies werden auch viele gemacht. Und natürlich wollen auch sie fotografiert werden. Hat man ein schönes Motiv gefunden, springen schon die Kinder darin rum. Um weiterzugehen, muss man sich seinen Weg bahnen. Und es werden mehr und mehr. In Afghanistan bist du niemals allein. Was in diesem Ort aussergewöhnlich ist, ist das Angebot an Ärzten: Kinderärzte, Zahnärzte und Allgemeinmediziner.
Etwas weiter – wir fahren wieder – essen wir in einem Restaurant, das mit Teppich ausgelegt ist. Die Schuhe bleiben vor der Tür. Trotz dessen, dass der Ober fliessend Englisch spricht, kommt die Bestellung total verhuxelt bei uns an. Feinjustierung ist nötig. Beim Verlassen steht ein kleiner Junge an der Tür und wirft dir gleich deine Schuhe vor die Füße, die er vorher noch in ein Regal einsortiert hat. Von Jürgen bekommt er kleines Trinkgeld. Das ist in Ordnung, wenn ein Kind etwas leistet, auch Geld zu geben. Ansonsten können Kinder gerne von uns Essen, Bonbons oder neu im Sortiment: Bälle bekommen.
Am Ortsausgang von Girishk entdecken wir auf einer riesigen Fläche ein riesiges Aufgebot an Menschen und Fahrzeugen. Bei den Fahrzeugen, die uns entgegen kommen, sehen wir ausschließlich Ziegen und Schafe – es ist ein Tiermarkt. Auch Kühe sehe ich dort zum ersten Male in Afghanistan. Es sind schwarz-weiß-gefleckte Kühe. Eine ganze Menge. Wir fahren auf das Gelände und entdecken zum Beispiel alte Reisebusse, die vollgeladen sind mit Schafen oder Ziegen oder Kühen, im Gepäckfach, im Fahrgastraum und teilweise noch in einem Käfig auf dem Dach. Einen dieser Busse beobachten wir beim Beladen. Danach geht es wieder auf die Straße. Noch lange werden wir in unserer Richtung Tiertransporte sehen.
Auf kleinen Teilstrecken verkaufen Jungen in einigem Abstand und mitten auf der Straße gekochte Eier, auf dem nächsten Abschnitt stehen Bettler Männer wie Frauen auf der Mittellinie, noch etwas weiter “repariert” ein Junge die Straße, indem er Sand in die Löcher füllt und dafür sich auch Geld erhofft.
Die Häuser ändern sich. Nach wie vor sind sie aus Lehm gebaut und rechteckig, aber die Kuppel fehlt. Immer häufiger sieht man Photovoltaik-Anlagen im Hof stehen.
Auf den letzten Kilometern war es besonders anstrengend für Jürgen, den wirrligen Verkehr nicht aus den Augen zu lassen und nicht durch die Löcher zu knallen. Und, wir kommen kaum voran. An der nächsten Tankstelle treffen wir auch Theo und Petra wieder, die schon vorausgefahren sind. Hier bleiben wir über Nacht, etwa 80 Kilometer vor Kandahar. Es ist traumhaftes Wetter und sitzen noch in der Sonne, nachdem Jürgen von dem freundlichen Mann von der Tankstelle unseren Reifen flicken hat lassen, der sich eine Schraube mit Beilagscheibe eingefahren hat. Dazu benutzt er diese braunen klebrigen Streifen, die noch mit Kleber versetzt werden – diese haben wir natürlich vorbei und so ist es schnell geschafft.
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Pünktlich fahren wir wieder auf die ausgemergelte Straße. Es ist wieder viel Verkehr und es herrscht Anarchie auf den Straßen. Die Rowdies unter den Verkehrsteilnehmern sind die Busfahrer, die hupend mit Vollgas an dir vorbeischießen. Man muss höllisch aufpassen. Einmal war es riiiichtig brenzlig, als uns ein Auto unbedingt noch links überholen muss, obwohl alles im Fluss war und ein Lkw entgegen kommt. Das Auto fährt so knapp, dass es beinahe gekracht hätte, hätte der Lkw-Fahrer nicht noch herumgezogen. Das wiederum bringt den Lkw in den tiefen Fahrrinnen ins Straucheln, der nun fast auf unserer Höhe ist. In letzter Sekunde fängt der Fahrer sein Gefährt wieder ein.
Je näher wir an Kandahar kommen, sehen wir Frauen nur noch mit Burka. Entgegen der landläufigen Meinung gibt es die Kleidungsstücke nicht nur in dem Burka-Blau, sondern auch in allen anderen Farben, wie beige, khaki, rosa, weinrot, türkis, grün. Kandahar ist oder war Taliban-Hauptstadt, mag wohl daran liegen.
Ansonsten ändern sich die Bilder der Straßenzüge kaum, doch es bleibt noch immer interessant.
Die Landwirtschaft wird intensiver. Wir wissen nicht genau, was wir sehen. Es gibt unseres Erachtens Wein, wahrscheinlich Getreide, Bäume, die wir nicht zuordnen können. Mehrere Imker finden sich in diesem Abschnitt, die ihren Honig an der Straße verkaufen. Wir sehen Plastiktunnel auf Feldern, können uns aber eben nicht vorstellen, was darin treibt. Was so auf dem Markt zu sehen ist, ist Blumenkohl, Zwiebel, Kartoffel, Tomate, Aubergine, Apfel, Orange, Banane. Obst und Gemüse kann man gut einkaufen, ansonsten bieten die kleinen Stände, an denen wir vorbeifahren kein Angebot, das unseren Bedarf decken würde, eher Reisebedarf. In der Hauptsache werden Süssigkeiten, Chips, tonnenweise Chips verkauft und vor allem Energy Drinks, darauf sind die Afghanen besonders scharf.
Nach etwa 80 Kilometern erreichen wir heute Kandahar zur Mittagszeit.